Holdrio!

Folklore und Astronomie auf dem Glaubenberg

Das 4. astro*sapiens Teleskoptreffen Langis vom 12. bis 15. Mai 1994


Grau in Grau offenbarte sich das Himmelsgewölbe von Nord bis Süd und von Ost nach West. Doch die Zeit war gekommen für eine weitere Zusammenkunft der Weisen des Weltalls. So pilgerten zahlreiche Sternenkundige in Richtung Innerschweiz. Tief im Innern eines jeder dieser Herzen schlummerte die Hoffnung auf einen traumhaften Nachthimmel.

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Ratatatatam! Wie eine Maschinengewehrsalve durchschoss der letzte Weidenrost das Innere des alten Kombis. Er war zum bersten gefüllt mit einem Dobsonian, einem Refraktor und drei Sternguckern. Langsam, aber zielsicher näherten wir uns dem Berghotel Langis. Obwohl das Wetter nicht gerade vom Feinsten war, kundeten mehrere Reihen parkierter Autos von einem regen Betrieb hier oben.

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Etwas steif von der langen Fahrt begaben wir uns zum Hoteleingang, der, wie auch letztes Jahr, von einem äusserst massigen und ebenso trägen Fellbündel in Bernhardinerform bewacht wurde. Mit einem grossen, ehrfürchtigen Schritt stiegen wir über den Hund hinweg, welcher uns mit einem müden Blick passieren liess.

In der Gaststube begrüssten uns vertraute Gesichter. Eine Reihe Fotos von der partiellen Sonnenfinsternis am 10. Mai machte die Runde und verursachte unter jenen, die diese nicht miterleben konnten, erneut eine leichte Argwohn gegen die Wetterentwicklung, die sich uns Sternguckern so selten freundlich gesinnt zeigt.

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Nach und nach stiessen immer mehr Fernrohrfetischisten zu jener Gruppe Menschen, welche sich nun tief in ihre astronomische Welt vertieft hatte. Ab und zu drangen Wortfetzen wie «Obstruktion», «Astigmatismus» oder «Hubble und Eta Carinae» nach aussen und verunsicherten die anderen Gäste, welche der bizarren Musik lauschten, die sich über dem fremdartigen Gemurmel erstreckte.

Während des Abendessens konnte man beobachten, wie ab und zu wieder einmal einer durchs Fenster das Wetter beobachtete, hoffend auf Besserung, die jedoch noch ausblieb. So verbrachte man den Abend mit fachsimpeln, Fotografien und Bücher anschauen.

Gegen morgen um drei riss die Wolkendecke ein bisschen auf und gab einen trüben Blick auf einige wenige Sterne frei. Doch zum beobachten lohnte es sich nicht und so hüpften auch die letzten Nachtschwärmer in die Heia.

Freitag

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Die Witterung am Morgen des Freitages war dafür um so eindrucksvoller und abwechslungsreicher. Nebelschwaden stiegen aus dem Tal empor und Wolken klebten wie grosse Flocken Schlagsahne an den schneebedeckten Berggipfeln. Manchmal verirrte sich eine auf den Glaubenbergpass und tauchte ihn in eine dicke, gräulichweisse Suppe, die sich aber bald wieder verzog. Die Sonne stieg hinter dem Wald empor und ein Strahlenmeer ergoss sich über das Hotel Langis, in dem noch zahlreiche Astrognome vor sich hin dösten.

Ab und zu erwachte wieder einer und fand sich etwas schlaftrunken in der Gaststube ein, wo er sich zur gleichen ländlichen Musik wie am Vorabend am Frühstücksbüffet bedienen konnte.

Langsam öffnete sich der Wolkenvorhang immer mehr. Vereinzelte hellblaue Flecken wuchsen zu grossflächigen Klecksen, die den ganzen Himmel überzogen. Bald dominierte nicht mehr ein Grau die Himmelssphäre, sondern ein wunderschönes Blau. Da und dort zeigten sich dennoch ein paar kleine Wattebäuschchen und zogen frech vor der Sonne vorüber.

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Zwischen den Autos wurden verschiedene Fernrohre aufgestellt und mit ihnen die Sonne oder das Gebirge beobachtet. Darunter befand sich ein optisch erstklassiger, selbstgebauter Newton: Ein 110mm Heidenhain-Spiegel steckte in einer zweckentfremdeten PVC-Kanalisationsröhre und projizierte ein scharfes und kontrastreiches Bild der Sonne auf die Netzhaut des Beobachters.

Auf der Sonnenscheibe, die je nach Filter mal orange, mal blau erschien, zeigten sich zu unserer grossen Überraschung endlich wieder einmal zwei grosse und ein paar weitere kleinere Flecken.

Inzwischen hatte sich auf der anderen Strassenseite eine ganze Rekrutenkompanie eingefunden, die sich erst wie Hühner auf einer Stange nebeneinander reihten, den Worten des Obermeiers lauschten und dann eifrig mit Armeelastwagen Fahrübungen veranstalteten. Ob es dieselben waren, die letztes Jahr wie Schmeissfliegen um die Fernrohre schwärmten ist noch nicht ganz geklärt — zumindest trugen sie alle den gleichen Vierfruchtpyjama.

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Zwanzig Zoll Pyrex, ein paar Bretter Sperrholz und acht Aluminiumstangen — viel mehr war an einem der schönsten Dobsonians, das es auf dem Glaubenberg zu bewundern gab, nicht dran.

Aus Süddeutschland kam einer angereist und brachte dieses Dobs mit. Er öffnete den Kofferraumdeckel und begann es aufzustellen. Sogleich versammelte sich eine Schar Schaulustige und betrachtete das Geschehen mit grossen Augen und offenen Mündern. Die ganze Szenerie wurde unterstrichen durch das unaufhörliche Klicken der Fotoapparate, deren Meister bemüht waren, jedes kleine schöne Detail dieses Fernrohres auf Zelluloid zu bannen.

Das Dobsonian stand fertig aufgebaut auf dem grauen Asphalt. Die Sonne schien und spiegelte sich in den lackierten und polierten, sanft gerundeten Sperrholzbrettern, auf denen kein Kratzer zu sehen war. Der stolze Erbauer öffnete die Spiegelzelle und ein erneutes Aah! und Ooh! raunte durch die Menge. Die Lagerung des 20" f/5 Spiegels nahmen die Fotografen peinlichst genau unter Beschuss und befanden es mit einem ehrfürchtigen Nicken für äusserst sauber und gelungen. Das Fernrohr wurde gedreht und gekippt. Es glitt samtweich in seinen Lagern und doch blieb es in der Stellung, in der man es losliess. Ohne Zweifel war das die Hauptattraktion dieses Wochenendes.

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Man fand sich wieder in der Gaststube ein und genoss das Abendessen und den darauf folgenden Vortrag über Aufsuchungstechniken mit dem Fernrohr.

Langsam brach die Nacht über uns herein. Immer mehr Fernrohre wurden zwischen den Autos aufgestellt. Einige zeigten auf den sichelförmigen Mond, andere in Richtung Venus oder Jupiter. Besonders in den Refraktoren und langbrennweitigen Newtons zeigten sich die meisten Details, doch benötigte man um diese zu sehen viel Glück und Geduld, weil das Seeing ziemlich schlecht war: Die Luft war unruhig und feucht, was sich besonders in einem Hof um die hellsten Himmelskörper zeigte. Manchmal war aber auch gar nichts mehr zu sehen, weil sich gerade wieder eine Wolke davor befand.

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Bei M13 mussten die Beobachter förmlich vom Okular weggerissen werden, weil sie sich nicht mehr von dem phantastischen Anblick erlösen konnten. Der Kugelsternhaufen zeigte sich so hell und so gross, dass man den Eindruck hatte, die ganze Milchstrasse ergiesse sich aus dem Okular.

Später spiegelte sich M51 in der 20"-Pyrexscheibe. Leider zähle ich nicht zu den Glücklichen, welche die Spiralgalaxie bestaunen durften, doch deren benommenen Beschreibungen zufolge war es eine Pracht. «Die Galaxie zeigte die Spiralen, bis zu den kleinsten Sternchen aufgelöst und hatte geleuchtet wie eine Feuerwerkssonne.»

Auch der (kleine) 14"-Dobs, der letztes Jahr der Star der Party gewesen war, zeigte helle und schöne Bilder von M13, den Galaxien M81 und M82 und dem Eulennebel mit der Galaxie M108 daneben. Das Gute daran war, dass mit diesem Dobs die Objekte länger angeschaut werden konnten, weil sich davor bzw. dahinter keine lange, drängelnde Schlange gebildet hatte. So war der Genuss fast noch höher als in Dobs' grossem Bruder.

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Doch es müssen nicht immer Riesengeräte nötig sein, um erstaunliche Bilder zu liefern. So war es zum Beispiel bei dem kleinen, kurzen 80mm-Apochromaten mit 2"-Okular. Der Anblick des hinter den Baumwipfeln untergehenden Mondes raubte einem fast den Atem. Doch, was viele nicht für möglich halten: Sogar Deep-Sky war darin eine Pracht. Dank eines grossen Gesichtsfeldes leuchteten M81 und M82 aus einer Vielzahl von Sternen hervor.

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Ein Teleskop, das in punkto Bildgüte und Auflösungsvermögen besonders bei Jupiter herausstach, war ohne Zweifel der im as 4/93 vorgestellte Takahashi FCT-100. Wenn die Luft einmal für einen kurzen Moment lang ruhig war, liessen sich sogar filigrane Strukturen in den einzelnen Wolkenbändern erkennen.

Von der gleichen Firma war auch ein 25cm-Cassegrain vertreten. Verzweifelt suchten einige nach einem Knopf für die Fokussierung und waren erstaunt, als ihnen der stolze Besitzer eine Kabelfernbedienung in die Hand drückte: Von Hand? — Nee, bei den Japanern geht alles automatisch. Bei dem Preis sind scharfe Sterne inbegriffen.

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Ebenfalls ein Japaner, ein gewöhnlicher 90mm-Fraunhofer von Vixen (siehe as 1/93), der zum erstenmal in seinem Leben in höhere Gefilde emporgestiegen war, zeigte mehr oder weniger beeindruckende Bilder, die sich durchaus mit den meisten messen konnten.

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Dunkelheit umgab uns. Die Sterne guckten zwischen den Wolken hindurch zu. Die Lichter im Hotel waren bis auf einige wenige ausgeschaltet. Ungestört liessen sich die Sterne beobachten. Ungestört? Nein. Achtung Auto! hiess es doch mehrmals und es galt, die Lider nach unten zu klappen, wenn man nicht für eine Viertelstunde das Sternenlicht verlieren wollte.

Wieder fuhr ein Auto die Passstrasse aus Richtung Sarnen herauf. Vor dem Hotel bremste es ab und bog in den Parkplatz ein. Ein neuer Sterngucker? Konnte nicht sein, denn die Scheinwerfer blieben voll aufgedreht. Langsam fuhr der Wagen zwischen den Fernrohren hindurch, bedacht darauf, jeden für Ewigkeiten mit Blindheit zu schlagen. Jedwelches Fluchen oder Licht aus! wurde von den beiden Lichtkegeln gierig verschlungen und sie schienen sogar nach jedem empörten Ausruf noch heller zu leuchten. Knapp verfehlte der linke Kotflügel das 20"-Dobsonian. Ein Okularköfferchen wurde in letzter Sekunde in Sicherheit gebracht. Welcher Obertrog konnte das wohl sein? Der Milchmann.

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Sofort wurde er in die Mangel genommen. Viel daraus gelernt schien er aber nicht zu haben, denn wenig später spielte sich der ganze Vorgang wieder rückwärts ab.

Insgesamt waren die verschiedensten Fernrohrtypen wie Newtons, Cassegrains, Schmidt-Cassegrains, und Refraktoren mit zwei bis drei Linsen, in allen gängigen Öffnungen von 80mm bis 500mm vertreten.

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Das Wetter in dieser Nacht war — naja! — abwechslungsreich und spannend zugleich. Für kurze Zeit tat sich der Himmel auf und zeigte sich in seiner ganzen Pracht. Dann scharten sich wieder Wolken über uns und die Sterngucker wurden zu Sternjägern. Dort, ein Loch! und alle Fernrohre schwenkten in die gleiche Richtung. Mit Glück wurde ein Objekt eingestellt und stolz den anderen gezeigt. Doch statt des erwarteten Uii, schön! gaben diese lediglich ein Ich seh' nur schwarz von sich. Schon hatte sich die Lücke wieder geschlossen.

Langsam und hoffend auf eine Besserung wurden die Fernrohre abgebaut — doch vergebens. Der Wolkendeckel blieb fest verschlossen und das Tor zur Welt der Träume öffnete sich. Die letzten Sterngucker traten ein. So wurde aus Abend und Morgen der dritte Tag.

Samstag

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Holdrio dideldideldum! strömte aus den Lautsprechern im und um das Hotel. Mit Gesichtern, welche deutlich von Schlafentzug geprägt waren, schlurften die Nachtschwärmer in Richtung Frühstücksbüffet und griffen mechanisch zum Kaffeekrug. Nach ein paar Tassen des schwarzen Saftes kehrten die Lebensgeister zurück und man wurde wieder ansprechbar.

Der Morgen war sonniger als der gestrige, doch das hatte nichts zu bedeuten, da das Wetter innerhalb eines Tages schnell umschlagen kann. Für den Samstag standen mehrere Vorträge auf dem Programm.

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Auf einem Laptop wurde die neuste Version von Dance of the Planets vorgeführt, insbesondere die Einschläge der Kometenfragmente von Shoemaker-Levy 9 auf Jupiter.

Ein unterhaltsamer Diavortrag zeigte von den Freuden und Leiden der Astrofotografen, wie man viel Mühe, Geduld, Erfindergeist und der entsprechenden Dunkelkammer noch das letzte aus Bildern herausholen kann.

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Der Workshop drehte sich um die Natur von veränderlichen Sternen und deren Beobachtung. Die Teilnehmer konnten selber die Helligkeiten bzw. die Periodendauer eines Veränderlichen unter Pseudosternen (in schwarze Dias mit einer Nadel gestochene Löcher) bestimmen und miteinander vergleichen. Obwohl die Helligkeit und Position der Referenzsterne eher änderte, als die des Veränderlichen, konnte dessen Minimum bis auf wenige Minuten genau bestimmt werden.

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Am Abend drängte uns das Hotelpersonal langsam und freundlich aus der Gaststube in den Keller. Es musste Platz geschaffen werden, für einen volkstümlichen Anlass und eine Werbeveranstaltung für die neuste Bettwäsche aus naturgetreuer Kunstfaser, die mehr Geld brachten.

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Den ganzen lieben langen Abend lang johlte und jauchzte die Menschenmenge zu beschwingenden Handorgelklängen. Einige Sterngucker, für die dies weit über der Schmerzgrenze lag, suchten das Weite und flüchteten auf den Parkplatz, wo dem unsicheren Wetter zum Trotz ein paar Fernrohre aufgestellt wurden. Die tapferen anderen verweilten in der Gaststube und amüsierten sich köstlich ab der Predigt des Bettwäschevertreters und dem überzeugten Beifall seiner Gläubiger.

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Nach vielen Stunden mühsamer Installation kam schliesslich auch die letzte Vorführung zustande. Sie handelte von der elektronischen Bildverarbeitung. Wofür der Fotolaborant einen ganzen Tag in der Dunkelkammer verbringen muss, das erledigt der CCD-Anwender mit ein paar Mausklicken.

So gegen drei Uhr morgens entschlüpfte der letzte Jauchzer und der letzte Jodler Kehlen, in denen die Flagge des Feuerwassers gehisst worden war. Im Hotel Langis kehrte wieder Ruhe ein. Der Himmel war dicht mit Wolken verhangen. Es begann zu regnen. Als einsamer, stummer Zeuge des ganzen Geschehens trat Jupiter aus der schwarzen Nässe des Nachthimmels hervor und strahlte wie noch nie.

Sonntag

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Sonntagmorgen. Sonnenschein. Vogelgezwitscher. Leise plätschernder Bach. Sanft summende Hochspannungsleitung. Friedlich schlafende Sterngucker unter warmen Decken.

8 Uhr — keiner wach. 9 Uhr — keiner wach. 10 Uhr — einer wach. 11 Uhr — alle wach. Wach? Zur Hälfte, die andere wurde im Kaffee ertränkt.

Der letzte Tag. Es wurde noch ein wenig gequatscht, ein paar Teleskope wuchsen aus dem Asphalt und suchten die Sonne hinter dem Wolkenschleier. Ansonsten hatte jeder genug zu tun mit seinem 3D-Geduldspiel: Wie bekomme ich bloss all das Zeugs wieder in mein Auto?

Man verabschiedete sich. Die Sippschaft der Astrognome schrumpfte langsam. Schliesslich war es zu Ende — das 4. as-Teleskoptreffen.

Auf ein neues!

Text und Fotos: Bernd Nies